Halbtot liegt der Zusammengeschlagene im Straßengraben
– ausgeraubt, verwundet und zu schwach, um selbst wieder auf die Beine zu kommen. Passanten erkennen sein schweres Leid, trotzdem ignorieren sie ihn. Sie haben einen wichtigen Termin, wissen nicht, was sie tun sollen, fühlen sich nicht zuständig.
In seiner neuesten Sozialenzyklika, der Textgattung, mit der die katholische Kirche traditionell ihre Soziallehre
fortschreibt, räumt Papst Franziskus der Erzählung vom barmherzigen Samariter, der sich des Ausgeraubten und Verwundeten am Wegesrand annimmt, eine zentrale Rolle ein.

Dabei macht er deutlich, wie sehr das Gleichnis aus dem Lukasevangelium auf unser globalisiertes Zeitalter zutrifft :
Keiner kann heute noch sagen, er hätte nichts gewusst
von den Verwundeten, Ausgebeuteten und Liegengelassenen, die unsere Wirtschafts und Lebensformen hinterlassen. Von den Arbeiterinnen in Bangladesch, die unter menschenunwürdigen Bedingungen und zu einem Hungerlohn in einsturzgefährdeten
Textilfabriken Kleidung und Schuhe nähen. Von den Kindern im Kongo, die, anstatt zur Schule zu gehen, in Minen Rohstoffe für Smartphones und die Automobilindustrie abbauen. Oder von den Kleinbauern im Amazonas, die ihres Landes beraubt werden, um riesige Flächen für den Anbau von Futtermitteln für die globale Fleischindustrie zu schaffen.

Mit seiner Enzyklika Fratelli tutti richtet sich Papst Franziskus an ‚alle Menschen guten Willens‘ und nimmt damit die gesamte Menschheitsfamilie in die Verantwortung, nicht länger wegzusehen, das Elend, das uns täglich begegnet, nicht weiter zu ignorieren und selbst zum sich kümmernden Samariter zu werden: Jede und jeder ist dazu aufgerufen, seinen Weg zu unterbrechen, sich herunterzubeugen, die Wunden derer anzusehen, die im
Straßengraben der Gesellschaft liegen. Und nicht auf den altbekannten Pfaden weiterzugehen, sondern zu handeln.

Die Autorinnen und Autoren dieser Ausgabe denken darüber nach, wie der zentrale Gedanke der Enzyklika – Geschwisterlichkeit und soziale Freundschaft – in den Bereichen gesellschaftlichen und politischen Lebens gestaltet werden kann: Wie
wird soziale Freundschaft im Feld der Umwelt- und
Entwicklungspolitik konkret? Auf welchen theologischen
Grundlagen fußt eine Lehre der Geschwisterlichkeit?
Wie wird die Enzyklika von denjenigen bewertet, die täglich mit menschlichem Leid und brutaler Ungerechtigkeit konfrontiert sind? Welche Rolle kann das Motiv der Geschwisterlichkeit im
interreligiösen Dialog einnehmen?

Die Beiträge, wie auch das Titelbild dieses Heftes – eine eigens angefertigte Illustration der Künstlerin L. Antoinette Engelbrecht-Schnür – machen deutlich, wie vielschichtig die Enzyklika Fratelli tutti gelesen werden kann und welch großes Potenzial für die Aushandlung einer geschwisterlichen Zukunft
auf globalem Maßstab in dem päpstlichen Schreiben steckt.

Die Redaktion

 

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